Digitale Rekonstruktion der Neuen Synagoge in Breslau
Die Neue Synagoge, die in den Jahren 1865 bis 1872 erbaut wurde, stand an prominenter Stelle im Breslau des 19. Jahrhunderts, bis sie im Jahr 1938 zerstört wurde. Die von Edwin Oppler, einem der ersten deutsch-jüdischen Architekten, entworfene monumentale Synagoge, spiegelte die Emanzipationsbestrebungen der Breslauer Juden wider. Ihr Bau ist mit einer interessanten und nur marginal erforschten Geschichte eines Wettlaufs der drei führenden Glaubensgemeinschaften um den Bau des prächtigsten Gotteshauses verbunden. Fast zur gleichen Zeit ergriffen Katholiken, Protestanten und Juden die Initiative, das Stadtbild prägende Kultstätten zu planen und zu bauen.
Das Projekt „Synagoge am Anger im Kontext dreier Glaubensgemeinschaften. Digitale Rekonstruktion und Dokumentation der Breslauer Synagoge“, das vom Architekturinstitut der Hochschule Mainz umgesetzt wurde, stellt die einzigartige Möglichkeit dar, das Wissen zu diesem ungewöhnlichen Gotteshaus mit den Mitteln unserer Zeit zu erfassen und zu vermitteln.
Das Ergebnis des Projekts ist ein semantisch angereichertes digitales 3D-Modell der Synagoge, das unter Anwendung einer digitalen Forschungsmethode und der Entwicklung einer virtuellen Forschungsumgebung (VFU) entstanden ist. Die VFU ermöglicht eine wissenschaftliche Erschließung der Quellen, die bei der Rekonstruktion des Bauwerks verwendet wurden und die Ausbildung eines Netzwerks zwischen allen erfassten Projektdaten, insbesondere den Institutionen, Personen, Objekten, Quellen, historischen Ereignissen, den Forschungsaktivitäten und den Orten. Ein Ziel des Projekts war es, den räumlichen Kontext der Stadt Breslau zur Entstehungszeit der Synagoge um das Jahr 1872 zu berücksichtigen, sowie das digitale 3D-Modell in den gesellschaftlich-kulturellen, insbesondere aber den religiösen Kontext dieser Zeit einzubetten. Zu diesem Zweck ist eine umfangreiche Graphdatenbank entstanden, in der auch Informationen zur evangelischen und katholischen Glaubensgemeinschaft sowie den parallel entstandenen Kirchen, der Salvatorkirche und Michaeliskirche, aufgenommen wurden. Die beiden Kirchen zusammen mit der Neuen Synagoge bildeten neue, das Stadtbild prägende Elemente. Das Projekt trägt zur Entwicklung einer digitalen Forschungsmethode der digitale 3D-Rekonstruktion von zerstörten bzw. nicht umgesetzten Bauwerken bei, die eine innovative mensch- und maschinenlesbare Kontextualisierung des Wissens um das verlorene Kulturerbe im Rahmen eines sich intensiv entwickelnden Bereichs der digitalen Geisteswissenschaften, den sogenannten „Digital Humanities“, ermöglicht.
Im Rahmen des Projekts wurde außerdem ein deutsch-polnischer Workshop für Studierende der Fachrichtung Architektur der Hochschule Mainz und Studierende der Fachrichtung Kunstgeschichte der Universität Wrocław/Breslau durchgeführt. Der Workshop war der Sakralarchitektur im Breslau des 19. Jahrhunderts gewidmet. Am Beispiel von nicht umgesetzten Entwürfen des Architekten C. J. Ch. Zimmermann (1831-1911) für die Salvatorkirche entstanden in der Folge fünf hypothetische 3D-Rekonstruktionen zu den fünf vorliegenden Entwurfsbeschreibungen.
Die „Reichspogromnacht“ markiert das weitreichendste Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung seit dem Mittelalter. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ereignete sich ein Akt der Schändung und Zerstörung von Synagogen, darunter aller von Edwin Oppler errichteten Synagogen, und weiteren Objekten im jüdischen Besitz. Im November 2018 jährte sich das tragische Ereignis zum 80. Mal, woran das Projekt in besonderer Weise mit einer Augmented Reality-Anwendung (AR), die in den App Stores online zur Verfügung steht, erinnert. Die App „kARtka z Synagogą“ ermöglicht in Kombination mit einer hierfür entwickelten Postkarte die 3D-Visualisierung der zerstörten Synagoge auf einem aufgedruckten Grundriss. Die „kARtka z Synagogą“ wurde erstmals beim jährlich organisierten Marsch des „Gegenseitigen Respekts“ im November 2018 vorgestellt. Die Teilnehmer der Veranstaltung geben ein lebendiges Zeugnis von der Erinnerung an die tragischen Ereignisse, die den Anfang der Vernichtung des europäischen Judentums darstellten.
Das Projekt der digitalen 3D-Rekonstruktion trägt auf innovative Weise dazu bei, die Erinnerung an die tragischen Ereignisse zu bewahren und die Öffentlichkeit für die komplizierte Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in einer Region, die vor dem Krieg zu Deutschland gehörte und heute Teil von Polen ist, zu sensibilisieren.
Team am AI MAINZ
Projektleitung und Koordination
Prof. Dr.-Ing. Piotr Kuroczyński und Karolina Jara M.A.
Wissenschaftliche Mitarbeiter
Igor Bajena M.Sc., Julia Brandt M.A., Karolina Jara M.A., Kinga Wnęk M.Sc.
Studentische Mitarbeiter
Maja Kwiecińska M.A., Sima Agajew B.Sc., Patrycja Stelmach B.Sc., Ewa Świć B.A., Marta Zielińska B.Sc.
3D-Texturierung
Anna Preiss M.Sc., Kinga Wnęk M.Sc.
Virtuelle Forschungsumgebung
Peggy Grosse M.A.
Webdesign
Michael Sherman M.A.
App „kARtka z Synagogą“
Konzeption und Koordination
Prof. Dr.-Ing. Piotr Kuroczyński, Karolina Jara M.A.
Technische Umsetzung
Dr. Daniel Dworak
Grafikdesign
Łukasz Walawender M.A., Kalina Zatorska M.A.
Finanzielle Unterstützung
Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit
Projektpartner
Institut für Kunstgeschichte der Universität Wrocław/Breslau
Dr. hab.-Ing. Agnieszka Zabłocka-Kos, Professor an der Universität Wrocław, Dr. hab. Jerzy Krzysztof Kos
Bente-Kahan-Stiftung
Bente Kahan und Dr. Marek Mielczarek
Architekturmuseum Wrocław/Breslau
Dr. Jerzy Ilkosz
Stadtmuseum Wrocław/Breslau
Dr. Maciej Łagiewski
Projektdauer
März 2018 - November 2019